WAS IST NOCH REAL?

WAS IST NOCH REAL?

Dieses Mal präsentieren wir ein ganz besonderes Werk auf der Bühne der Kulturscheune Nürnberg: Eine deutsche Uraufführung eines jungen, zeitgenössischen Dramatikers aus Ungarn, Balázs Szálinger, unter dem Titel Die Kinder des Ödipus. Eine klassische, mythische Thematik wird in ein aktuelles und brisantes Stück aufbereitet. Und wenn Sie es nicht zu unserer Aufführung nach Nürnberg schaffen, dann kommen Sie doch vielleicht zur Wiederaufnahme in die Würzburger Residenz.

Eigentlich hat sich die Familie auf einen ruhigen Fernsehabend gefreut. Die Tochter hat endlich die Hausaufgaben erledigt, die Mutter stellt Bier und Knabberzeug bereit und der Vater greift zur Fernbedienung. Keiner von ihnen ahnt, dass das sagenumwobene Herrschergeschlecht der Stadt Theben ausgerechnet ihr Wohnzimmer als Ort für eine Tragödie der ganz besonderen Art auserkoren hat. Unter den staunenden Blicken der Familie bricht das Weltgeschehen in das Wohnzimmer ein:
Viele Jahre ist es her, dass König Ödipus die Sphinx besiegt hat. Nun streiten sich seine Söhne um das Erbe. Der Geruch von Krieg umweht die Chipstüten auf dem Wohnzimmertisch der Familie und der Hausmeister wird zum Handlanger der undurchsichtigen Machenschaften von Ödipus‘ kaltherzigem Schwager Kreon, der mit harter Hand die Ordnung wiederherstellen will.

Die Grenzen verschwimmen zwischen Realität und Tragödie – die Familie muss sich entscheiden, ob sie inmitten des Chaos zu einem geordneten Alltag zurückkehren kann. Das Spiel um Götter und Menschen kann beginnen.

Zum Mythos

Vielen ist der antike, griechische Ödipus-Mythos bekannt, doch der schicksalhafte Fluch seiner vier Kinder wird weniger häufig thematisiert. Daher zur Erinnerung:

Ödipus ist der Sohn des Laios, des Könis von Theben, und Iokaste. Laut einer Prophezeiung wird er seinen Vater töten und seine eigene Mutter, Iokaste, heiraten. Daher beschließt Iokaste, den Neugeborenen auszusetzen. Doch die Knechte des Nachbarkönigs finden ihn und der König nimmt den Knaben an Kindes statt an. Als junger Mann erfährt auch er vom Orakel von Delphi, dass es sein Schicksal sei, seinen Vater zu töten und seine Mutter zu heiraten. Durch eine Flucht versucht er dem zu entgehen, tötet aber unterwegs unwissentlich Laios und gelangt nach Theben, wo er als Lohn dafür, dass er die Sphinx besiegt, zum König ernannt wird und seine Mutter zur Frau bekommt. Sie gebärt ihm vier Kinder, Eteokles, Polyneikes, Ismene und Antigone. Als er erfährt, dass sich die Weissagung erfüllt hat, blendet er sich.

Die beiden Söhne, Eteokles und Polyneikes, sperren ihren vermeintlich verrückt gewordenen Vater ein, der sie verflucht: Sie sollen umkommen, indem sie sich gegenseitig töten. Diese vereinbaren daraufhin, jährlich abwechselnd zu regieren. Nach dem ersten Jahr verweigert Eteokles jedoch den Rücktritt, und schickt seinen Bruder ins Exil. Dieser wirbt in Argos Söldner an, um seine Vaterstadt zurückzuerobern. Bevor es zur Schlacht kommt, bringen sich die Söhne allerdings im Zweikampf gegenseitig um.

Daraufhin stürzt sich ihre Mutter Iokaste ins Schwert. Ihr Bruder Kreon, der nun die Herrschaft übernimmt, verbannt zunächst Ödipus und verbietet dann die ehrenvolle Bestattung des Polyneikes, da er die Vaterstadt angreifen wollte. Antigone aber, die ihren Bruder nicht unbestattet lassen will, missachtet sein Verbot und vollzieht das Bestattungsritual. Als Strafe lässt Kreon sie in eine Höhle einmauern. Dort erhängt sie sich. Ihr Verlobter, Haimon, der Sohn des Kreon, der sie so findet, stürzt sich in sein Schwert. Kreon bleibt verzweifelt und gebrochen zurück. Ismene ist wie aus Versehen als einziges Kind des Ödipus noch am Leben.

Zu Balázs Szálinger (*1978) und dem Stück

Der vielfach ausgezeichnete und produktive, junge ungarische Dramatiker, Lyriker und literarische Übersetzer schafft aus drei antiken Tragödien ein ganz neues Stück. So basiert der erste Akt der Tragödie auf „Sieben gegen Theben“ von Aischylos und auf „Die Phönikierinnen“ von Euripides, der zweite auf der „Antigone“ des Sophokles. Die verschiedenen Grundstimmungen und Ansichten der drei Tragödien werden in einem einzigen neuen Stück vereint. Eine völlig neue Perspektive eröffnet sich dem Publikum dadurch, dass statt eines Chores eine moderne, alltägliche Familie das Geschehen kommentiert und das Publikum wegweisend durch die Wirren der griechischen Mythologie lenkt.

Zur Adaption und Interpretation

Die eigenständige Übersetzung der Tragödie aus dem Ungarischen durch IMS ermöglichte der Gruppe eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem Text. Begleitet durch den Autor ergibt sich daraus eine deutsche Uraufführung – hier, in der Kulturscheune der Altstadtfreunde Nürnberg.

Das Stück fügt sich in das Bestreben der Gruppe, verschiedene Ebenen auf der Bühne zu thematisieren und zu reflektieren, wie schon in den vergangenen Produktionen. Hier sind das die Ebene des Zuhauses und das des Weltgeschehens. Das Publikum gewinnt durch die Identifizierung mit der Familie Zugang zu der „abgehobenen“ mythischen Ebene. Letztere steht für das unüberschaubare, große Weltgeschehen, das man nur aus den Nachrichten kennt und jederzeit mit der Fernbedienung abschalten kann. Genau das bricht nun in die kleine, heimelige Alltagswelt der Familie ein und zwingt sie, dem von vorne bis zum bitteren Ende zuzusehen und Position zu beziehen. Eine Rückzugsmöglichkeit gibt es nicht; nur durch die Konfrontation mit dem Geschehen können Lösungswege für die Zukunft gefunden werden.

Sprachlich wird die Unterscheidung zwischen den beiden Ebenen dadurch geschaffen, dass die Familie in Prosa, die griechischen Mythengestalten jedoch in Blankversen spricht.

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